LOGBUCH LXIX (15. Januar 2025). Von Christoph Fackelmann
I.
Von 1825 bis 1827, in den letzten Jahren vor seinem frühen Tod, gibt Wilhelm Hauff drei Bände eines Märchen-Almanachs für Söhne und Töchter gebildeter Stände heraus. Er bestreitet sie hauptsächlich mit eigenen Märchen- und Sagenerzählungen, darunter etwa Die Geschichte von Kalif Storch, Die Geschichte von dem kleinen Muck, Der Zwerg Nase und Das kalte Herz. Deren Figuren und Motive werden einen festen Platz im kulturellen Hausschatz der Deutschen während des bürgerlichen Zeitalters erringen. Dem ersten Almanach stellt Hauff eine kurze allegorische Geschichte voran, um sein Vorhaben zu rechtfertigen. Darin läßt er „Märchen“, die älteste Tochter der großen Herrscherin „Phantasie“, niedergeschlagen aus der Welt der Menschen in das ferne, ewig grüne, immer sonnenbeschienene Reich der Mutter zurückkehren. Sie klagt bitter über die gewandelten Verhältnisse unter den Menschen:
„… sie lieben mich nicht mehr. Überall, wo ich hinkomme, begegnen mir kalte Blicke, nirgends bin ich mehr gern gesehen; selbst die Kinder, die ich doch immer so lieb hatte, lachen über mich und wenden mir altklug den Rücken zu.“ Unter den Menschen habe sich ein Regime eingenistet, das eine strenge Kontrolle über den Geist und die Vorstellungskraft ausübe und alles diskreditiere, was das Zeichen der Unvernunft trägt: Sie „haben kluge Wächter aufgestellt, die alles, was aus deinem Reich kommt, o Königin Phantasie, mit scharfem Blicke mustern und prüfen. Wenn nun einer kommt, der nicht nach ihrem Sinne ist, so erheben sie ein großes Geschrei, schlagen ihn tot oder verleumden ihn doch so sehr bei den Menschen, die ihnen aufs Wort glauben, daß man gar keine Liebe, kein Fünkchen Zutrauen mehr findet.“
Der zeitkritische Grundimpuls, der sich hier äußert, ist wesentlich dafür mitverantwortlich, daß sich die Dichter der romantischen Bewegung in Deutschland um 1800 der Gattung des Märchens zuwenden und ihr eine fundamentale Bedeutung zumessen. „Ach … könnten wir die Wissenschaften so hübsch auswendig, wie der blanke Vetter und die geputzte Muhme“, bedauern sich Felix und Christlieb, die beiden jungen Protagonisten in E. T. A. Hoffmanns Märchen Das fremde Kind aus dem zweiten Band der Serapionsbrüder (1819). All ihr feines Spielzeug haben sie im ausgelassenen Toben durch den Wald kaputtgemacht und können es nicht mehr richten: „… wir ungeschickten Dinger – ach wir haben keine Wissenschaften!“ Doch schon im nächsten Augenblick schwebt ihnen ein geheimnisvolles Wesen „aus dem tiefsten Schatten des dunkeln Gebüsches“ entgegen, umgeben von „einem wundersamen Schein, der wie sanfter Mondesstrahl über die vor Wonne zitternden Blätter gaukelte“: Es ist das „fremde Kind“, ein Bote aus der Sphäre des Zaubers und der Wunder. Sein Einfallsreichtum und seine übernatürlichen Gaben lassen die Spiele, zu denen es die Geschwister einlädt, zu einem Ausdruck der ganz sich selbst genügenden Phantasie geraten. Dazu haben die Kinder kein Spielzeug mehr nötig. Unerbittlich ist ihr Vater um ihre Erziehung zu nützlichen Gliedern der Gesellschaft bemüht. Aber selbst dieser trockene Charakter wird, wenngleich erst im Angesicht des Todes, erkennen, daß ihm jenes geheimnisvolle Geschöpf einst selbst erschienen war und er es nur vergessen hatte. Ein böser Puritanismus der funktionalen Vernunft, dessen zugleich lächerliche und gefährliche Agenten die philiströsen Alltagsszenarien bevölkern, in denen sich Hoffmanns Feuer- und Erdgeister mit ihrem Wunderzauber verborgen halten, hatte ihn an die nackten Tatsachen gefesselt.
„Die Poesie heilt die Wunden, die der Verstand schlägt“, verkündet Novalis (Friedrich von Hardenberg), ein anderer Frühverstorbener unter den deutschen Romantikern. „Die Welt muß romantisiert werden“, fordert er daher in einer der berühmtesten Programmäußerungen der Bewegung. In diesem Prozeß, dessen Akteur die Poesie ist, „findet man den ursprünglichen Sinn wieder“, und zwar in der Weise einer „qualitativen Potenzierung“: „Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es – Umgekehrt ist die Operation für das Höhere, Unbekannte, Mystische, Unendliche … Es bekommt einen geläufigen Ausdruck … Wechselerhöhung und Erniedrigung.“ Dem Märchen kommt dabei eine zentrale und universale Aufgabe zu: Es „ist gleichsam der Kanon der Poesie. Alles Poetische muß märchenhaft sein.“
Bei Hauff findet das personifizierte Märchen über eine ironische Fügung doch noch Zugang zur Menschenwelt: Als die „Grenzwächter“ ungeduldig einen Beweis seines „Wissens“, d. h. der Nützlichkeit und Zweckmäßigkeit seines Aufenthalts, fordern, malt es dazu ein „buntes Gewimmel“ von Zeichen und „belebten Bildern“ in die Luft. Dabei schlafen die phantasielosen Männer gelangweilt ein. So kann „Märchen“ an ihnen vorbei durch das Tor schlüpfen und findet „ein stilles, freundliches Plätzchen“, in dem es fernab des fortschrittlichen Entzauberungsbetriebes seine Magie entfalten kann.
Diese Standortbestimmung des Märchens ist schon ein Reflex der späten Stunde, in der der romantische Aufbruchs- und Verwandlungsdrang, welcher rund dreißig Jahre zuvor Novalis in Bann geschlagen hatte, in biedermeierliche Genügsamkeit überzugehen begonnen hat. Hauffs Märchenerzählungen halten sich indes weit näher bei jenen volksläufigen Mustern auf, die die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm durch ihre Sammlung von Kinder- und Haus-Märchen (1812/14) ein erstes Mal systematisch dokumentierten. Der feste moralische Kompaß, die klare Unterscheidung zwischen Gut und Böse, die Leitbedeutung von Tugend und Sünde verleihen ihnen den Rahmen, innerhalb dessen die Zauberwesen, unter- und überirdischen Mächte ihre Rollen als Verführer, Beschützer oder Erzieher spielen.
Das kalte Herz beispielsweise zeichnet das Porträt des jungen Kohlenbrenners Peter Munk, der, von Neid und Gier getrieben, einen Pakt mit dem teuflischen Holländer-Michel eingeht. Dieser nimmt Peters lebendiges Herz in Besitz und setzt ihm an dessen Stelle ein steinernes in die Brust. So kann der Mann, von keinen Regungen des Gewissens mehr gehemmt, zu Reichtum und Macht gelangen. Aus der schweren Schuld, in die er sich dabei verstrickt, kann ihn schließlich nur die tiefe Reue befreien. Dazu ringt er sich im letzten Aufbäumen seiner Seele gegen die böse Macht, der er sich ausgeliefert hat, durch, und als äußeres Siegel unter die innere Tat vermag der übernatürliche Beistand des Glasmännleins, eines guten Waldgeistes, den Bann des Holländer-Michel schließlich zu brechen. Am Ende kann Peter eine eindeutige Lehre aus seinem Schicksal ziehen: „Es ist doch besser, zufrieden zu sein mit wenigem, als Gold und Güter haben und ein kaltes Herz.“
Das sogenannte Volksmärchen gilt den Romantikern als genuiner Ausdruck der Volks- oder Naturpoesie; es atmet ein ursprüngliches Naheverhältnis, ja ein Mit- und Ineinander von menschlichem und übermenschlichem Lebensbereich. Hinter ihm steht weder ein Autorindividuum, noch wird es von schriftlicher Fixierung getragen; es lebt von der mündlichen Weitergabe von Generation zu Generation. Genau in jenem historischen Moment, als dieser Brauch in der modernen Gesellschaft zu versiegen droht, weil Volksaufklärung und frühindustrielle Transformation ihn machtvoll hintertreiben, fühlen sich die Romantiker berufen, den Faden aufzunehmen. Einerseits geschieht dies durch die erwähnte gelehrte Tätigkeit des Sammelns und Konservierens (die meist selbst Züge einer literarischen Zurichtung trägt). Andererseits aber setzen die Dichter sich zum Ziel, die in der Region des Märchens verortete Fülle weltverwandelnder poetischer Kraft in eigenen erzählerischen Schöpfungen einzufangen und aufs neue zu betätigen.
Die Kunstmärchen, die auf diesem Weg entstehen (der Begriff selbst setzt sich erst später durch), gehorchen freilich erklärtermaßen literarischen Regeln und Verfahrensweisen, wollen also nicht bloß das anonym kursierende Geschichtenrepertoire nachahmen. Am radikalsten denkt den Ansatz, der in einen Versuch allegorischer und symbolischer Weltdeutung großen Stils mündet, abermals Novalis: „Im Märchen ist echte Naturanarchie“, alles darin muß „wunderbar, geheimnisvoll und unzusammenhängend sein; alles belebt … Die ganze Natur muß auf eine wunderliche Art mit der ganzen Geisterwelt vermischt sein; die Zeit der allgemeinen Anarchie, der Gesetzlosigkeit, Freiheit, der Naturstand der Natur, die Zeit vor der Welt.“
Hier kommt auf entscheidende Weise der Dichter ins Spiel, denn auch er „betet den Zufall an“. Das heißt, zum Dichten gehört das freie, ungebundene Spiel der Phantasie. Indem nun die im Märchen sich manifestierende „Zeit vor der Welt … gleichsam die zerstreuten Züge der Zeit nach der Welt“, der „Naturstand“ also in einem sonderbaren symbolischen Verhältnis das „ewige Reich“ vorausspiegelt, übernimmt der Märchendichter wahrhaft prophetische Aufgaben: „Der echte Märchendichter ist ein Seher der Zukunft“, er gibt in den scheinbar zusammenhangslosen Traumbildern, die die magischen Weltverhältnisse im Ursprung der Geschichte reflektieren, zugleich einen Vorgeschmack jener „künftigen Welt“, die der Romantiker als „vernünftiges Chaos“ imaginiert, mithin als höhere, ihrer selbst bewußt gewordene Stufe der Anarchie – als geordnete Unordnung.
II.
Damit ist der außerordentliche Rang umrissen, den Novalis dem Märchen innerhalb der romantischen Kunst- und Weltauffassung zudenkt. Folgerichtig spielen in den beiden Romanfragmenten, die 1802 aus dem Nachlaß dieses großen Geheimnisvollen der deutschen Literaturgeschichte veröffentlicht werden, eingeflochtene Märchen eine wichtige Rolle. Das Märchen von Hyacinth und Rosenblüthe in den Lehrlingen zu Sais etwa erzählt vom mystischen Weg der Selbstfindung, der den von Sehnsucht und Unrast ergriffenen Helden auf wundersame Weise an den Ausgangspunkt seiner Suche zurückführt. Erst in der rätselhaften Wiedervereinigung mit der verlassenen Geliebten erkennt er sich selbst und seine Bestimmung. Das Atlantis-Märchen im Heinrich von Ofterdingen gestaltet in der Vermählung der Prinzessin und des jungen Naturforschers gleichnishaft die Synthese von Poesie und (nichtmechanistischer) Naturerkenntnis. Das höhere Leben, das daraus entspringt, und die höhere Gemeinschaft, die es stiftet, verweisen u. a. auf die Idee des „poetischen Staates“, die Novalis in seinen Fragmenten andeutet.
Während bei ihm eine künstliche Naivität vorherrscht, die durch geballte Stilisierung eine Entsprechung für Ton und Gestus des alten Märchens zu schaffen sucht, tendieren andere Verfasser romantischer Kunstmärchen zu komplexen Erzählstrukturen und geradezu experimentellen Techniken, um ihr Ideal einer modernen Märchenkunst zu verwirklichen. Bei Ludwig Tieck kommen Psychologie und Sexualität stark zur Geltung. Eine Sündenfall-Geschichte bietet Der blonde Eckbert, enthalten in den Volksmärchen von 1797, einer weitläufigen Sammlung mit einem in diesem Fall durchaus uneindeutigen Titelbegriff, die Tieck unter dem Pseudonym Peter Leberecht herausgibt. Der einflußreiche Text erzählt ein Märchen im Märchen und zeigt seinen von Anfang an gebrochenen Helden, der eigentlich nur in der Rahmenerzählung auftritt, als Spielball einer von Zauberhand eingefädelten strafenden Intrige. Er gleitet ins Verbrechen ab und verfällt schließlich dem Wahnsinn.
Ausdruck einer besonders markanten ironischen Brechung, die freilich schon anfänglich zur romantischen Märchendichtung gehört, sind bestimmte erzählerische Kunstgriffe bei E. T. A. Hoffmann. Nicht nur stören sie gezielt die poetische Illusion, sondern sind auch Mittel der Konfrontation mit dem ganz und gar unpoetischen bürgerlich-städtischen Zeithintergrund. Dabei entstehen die grotesken und tragikomischen Konflikte in Hoffmanns Märchenerzählungen gerade aus dem unerklärlichen Ineinanderverwoben- und Aufeinanderangewiesensein von Bürgerwelt und Geisterreich.
„Mit Recht darf ich zweifeln, daß du, günstiger Leser! jemals in einer gläsernen Flasche verschlossen gewesen sein solltest, es sei denn, daß ein lebendiger neckhafter Traum dich einmal mit solchem feeischen Unwesen befangen hätte“, so wendet sich beispielsweise der Erzähler in Hoffmanns Goldenem Topf (erschienen im dritten Band der Fantasiestücke in Callots Manier, 1814) einmal direkt an sein Publikum, und zwar gerade, als der Held seines in zwölf „Vigilien“ (Nachtwachen) gegliederten „Märchens aus der neuen Zeit“ sich als Opfer eines Zaubers „in einer wohlverstopften Kristallflasche auf einem Repositorium im Bibliothek-Zimmer“ seines zaubermächtigen Vorgesetzten wiederfindet: „War das der Fall, so wirst du das Elend des armen Studenten Anselmus recht lebhaft fühlen“, fährt der Erzähler fort, „hast du aber dergleichen nie geträumt, so schließt dich deine rege Fantasie mir und dem Anselmus zu Gefallen wohl auf einige Augenblicke in das Kristall ein … Habe Mitleid, günstiger Leser! mit dem Studenten Anselmus, den diese namenlose Marter in seinem gläsernen Gefängnisse ergriff … Er konnte kein Glied regen, aber seine Gedanken schlugen an das Glas, ihn im mißtönenden Klange betäubend, und er vernahm statt der Worte, die der Geist sonst aus dem Innern gesprochen, nur das dumpfe Brausen des Wahnsinns.“
Oft werden die Märchen zu Reihen und Kränzen gefügt und von einer mehr oder minder realistischen Rahmenhandlung eingefaßt, so etwa bei den erwähnten Almanachen Hauffs, wo sie im exotischen Ambiente einer Karawane zur Unterhaltung oder im Wirtshaus im Spessart den von Räubern bedrohten Reisenden zur Ablenkung dienen. In der Gesprächssituation läßt sich die Mündlichkeit, die ursprünglich zum Märchen gehört, kunstvoll revitalisieren. Auch entstehen zahlreiche Einzelmärchen von geradezu romanhaften Dimensionen, z. B. Undine (1811) von Friedrich de la Motte Fouqué, Peter Schlemihls wundersame Geschichte (1814) von Adelbert von Chamisso und Das Märchen von Gockel und Hinkel (ca. 1811/16) von Clemens Brentano.
Die einzige Fassung, die Brentano von seinem „Gockelmärchen“ zu Lebzeiten veröffentlicht – 1837 unter dem Titel Gockel, Hinkel und Gackeleia –, ist gegenüber den Ursprüngen des Textes sogar noch erheblich erweitert. Sie fällt in die von der religiösen Wende des Dichters bestimmte letzte Schaffensphase. Stärker noch als die Frühfassung verwebt sie eine Fülle von Formen und Schreibweisen vielbezüglich miteinander: Prosa und Vers wechseln einander fließend ab, eingeflochten sind eigene Gedichte ebenso wie volksliedhaftes Überlieferungsgut. Als am Ende der Geschichte alle Anwesenden in Kinder verwandelt sind, hat die vom Autor verehrte geistliche Dichterin und Erzieherin Luise Hensel ihren Auftritt als „approbierte Gouvernante“ und lehrt sie ihr berühmtes Kinderlied „Müde bin ich, geh zur Ruh …“. Das Spiel der Formen reicht allerdings weit darüber hinaus und schließt sogar Brief, Tagebuch und einen immer wieder vor den Vorhang tretenden selbstironischen Erzähler ein. So ergibt sich ein metamorphes Gebilde arabesker Einfälle, auf das die Kritik oft herabsah, das in seiner unbändigen Verwandlungsfreude jedoch durchaus als Entsprechung des an die Phantasie des romantischen Märchendichters gerichteten Zufallsgebots angesehen werden kann.
Dagegen ist der Handlungsbogen von verhältnismäßig geringer Bedeutung: Der gutmütige, aber aus der Zeit gefallene Raugraf Gockel von Hanau dankt seine Befreiung aus der Armut, in die ihn äußere Intrigen und der Leichtsinn von Frau und Tochter gestürzt haben, seiner tiefen Zuneigung zum Federvieh. Der sprechende Hahn Alektryo opfert sich für seinen Herrn und schenkt ihm den zaubermächtigen Siegelring des Salomo, den er in seinem Kropf aufbewahrte. Ein zweites handlungstreibendes Motiv ist die „Spielsucht“ der Tochter Gackeleia. Damit ist, zum mehrdeutigen Symbol verklausuliert, ihr Verlangen nach einer Puppe gemeint, deren Besitz ihr aber der Vater als Strafe für ihre Mitschuld am Tod der Hühner untersagt hat. Als sie sich über das Verbot hinwegsetzt, führt dies zwar zu weiteren verhängnisvollen Komplikationen, schenkt letztlich aber durch den gunstvollen Eingriff einer höheren Macht die für das Märchen typische glückliche Lösung für das Ganze.
Die planvolle Unordnung, in der sich der anarchische Charakter des Wunderbaren ausdrücken soll, zeigt die handelnden Personen bei der Begegnung mit dem Zauber in einer drolligen Mischung aus Überraschung und Selbstverständlichkeit. Die Einkehr in die kindliche Einfalt, die am Ende der Erzählung auch ihren gestalthaften Ausdruck findet und die Wiedergeburt des Alektryo einschließt, gleicht einer mythischen Apotheose. Sie feiert das dankbare Gottvertrauen. Gegenüber dieser frommen Idylle tritt allerdings das Ich des Märchendichters ein letztes Mal hervor, stellt das Fiktive (Nächtige) am poetischen Märchenwunder heraus und rückt sein persönliches Schicksal in das Maß der apokalyptischen Wahrheit:
In die Nacht hab ich gedichtet,
Was gen Morgen wird gelichtet,
Und gesichtet und gerichtet;
Vor mir ruht das große Buch,
Und ich harre auf den Spruch.
Der künstlerische Reichtum, den die Hinwendung der Deutschen Romantik zum Märchen hervorbrachte, ist staunenswert, und die Vitalität, mit der sie an dem wohleingerichteten und gutgesicherten Wahrheitssystem des rationalistischen Domestizierungsprojektes rüttelt, wirkt zeitenüberdauernd. Auch daß sie sich der Dämonie, die sich dabei auftut und mitunter ausgesprochen homunkuleisch-hybride Züge aufweist, stellt, macht ihre Bedeutung aus. Wie die dunklen Dynamiken zu hegen und ins notwendige Lot zu rücken seien, kann sie nur zum Teil beantworten. Es mag sein, daß die religiösen Biographien einiger romantischer Märchendichter – beginnend mit Novalis selbst, fortgesetzt bei Brentano, Chamisso, Eichendorff und anderen – diese Antwort besser formulieren. Das aber steht auf einem anderen Blatt.
Neuere Ausgaben der erwähnten Werke:
Clemens Brentano: Gockel, Hinkel und Gackeleia. Ein Märchen. Frankfurt 1838. Hg.: Joseph Kiermeier-Debre. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag 1998 (= Bibliothek der Erstausgaben, dtv Bd. 2641).
Adelbert von Chamisso: Peter Schlemihls wundersame Reise. Mit einem Kommentar v. Thomas Betz u. Lutz Hagestedt. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2003 (= Suhrkamp-Basisbibliothek, Bd. 37).
Friedrich de la Motte Fouqué: Undine. Erzählung. Berlin 1811. Hg.: Joseph Kiermeier-Debre. Diessenhofen 2022 (= Bibliothek der Erstausgaben, Bd. 041).
Wilhelm Hauff: Märchen. Nach den Ausgaben der Märchenalmanache 1826 bis 1828, textkritisch revidiert. Hg.: Hans-Jörg Uther. Kreuzlingen: Diedrichs 1999 (= Die Märchen der Weltliteratur).
E. T. A. Hoffmann: Sämtliche Werke. Bd. 2: Fantasiestücke in Callot’s Manier. Werke 1814. Hg.: Hartmut Steinecke, unter Mitarbeit v. Gerhard Allroggen u. Wulf Segebrecht. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker-Verlag 1993 (= Bibliothek deutscher Klassiker, Bd. 98), Taschenbuchausgabe 2006.
E. T. A. Hoffmann: Sämtliche Werke. Bd. 4: Die Serapions-Brüder. Hg.: Wulf Segebrecht, unter Mitarbeit v. Ursula Segebrecht. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker-Verlag 2001 (= Bibliothek deutscher Klassiker, Bd. 175).
Novalis: Werke. Hg. u. kommentiert v. Gerhard Schulz. 5., ergänzte Auflage. München: C. H. Beck 2013.
Ludwig Tieck: Märchen aus dem „Phantasus“. Hg.: Walter Münz. Stuttgart: Reclam 2013 (= Reclams Universal-Bibliothek, Bd. 18240).
Abbildung: Ausschnitt aus der „Der große Morgen II“ (1809) von Philipp Otto Runge (Wikimedia Commons)