LOGBUCH XLV (10. April 2023). Von Norbert Feinendegen
Daniel Zöllner hat in seinem letzten LOGBUCH-Eintrag eine trinitarische Ontologie als eine zukünftige Aufgabe abendländischer Metaphysik bezeichnet. Damit stellt sich die Frage, aus welchen Quellen sich eine solche Ontologie speisen könnte. Ein Autor, auf den man hierbei zurückgreifen könnte, ist der Oxforder Literaturwissenschaftler, Philosoph und Laientheologe C. S. Lewis (1898–1963). Dieser hatte sich nämlich selbst erst durch die anderen großen metaphysischen Entwürfe der Neuzeit durchgearbeitet – und sie eine Zeit lang zu leben versucht –, bevor er im September 1931 zur Anerkennung der trinitarischen Ontologie des Christentums kam.
Als Jugendlicher hatte Lewis eine naturalistische Weltanschauung vertreten, die sämtliche Geschehnisse in der Welt auf physische Prozesse – letztlich auf „zufällige Konstellationen von Atomen“ (Bertrand Russell) – zurückführte. Diesen materialistischen Monismus hatte er während des Philosophiestudiums zugunsten eines idealistischen Monismus aufgegeben, der alles, was ist, als ein Produkt (eine „Projektion“) eines sich hinter dem „Vorhang der Sinne“ (F. H. Bradley) verbergenden absoluten Geistes ansah. War der materialistische Monismus am Problem der Erkenntnis gescheitert, so zeigte sich das Hauptproblem des idealistischen Monismus für Lewis darin, daß er sich nicht leben ließ, gab es in ihm doch keine Möglichkeit einer Beziehung zu Gott. Auch wenn seine Philosophie das für unsinnig erklärte, ertappte Lewis sich ständig dabei, Gott bei seinen Bemühungen, ein moralisches Leben zu führen, um seine Hilfe zu bitten: Er entdeckte in sich das Bedürfnis, zu Gott zu beten. Dies brachte ihn zu der Erkenntnis: Es stimmt einfach nicht, daß alle Dinge eins sind. Gott und die Welt sind real voneinander unterschieden (was die Gegenwart Gottes in seiner Schöpfung aber keineswegs ausschließt),[1] und das Ziel menschlicher Existenz ist die Gemeinschaft mit unserem göttlichen Schöpfer.
Damit stand Lewis jedoch vor der Frage, wie sich die Einheit von mit Vernunft und Selbstbewußtsein ausgestatteten Geschöpfen denken läßt – miteinander wie auch mit ihrem Schöpfer. Der gedankliche Ausgangspunkt von Lewis’ Antwort ist die Wahrnehmung eines anderen als conditio sine qua non menschlichen Selbstseins. Wir wissen von uns selbst nur dadurch, daß wir uns im Kontrast zu etwas zu erleben, das nicht wir selbst sind. Die Möglichkeit, „Ich“ zu sagen, hängt also davon ab, daß es etwas gibt, das nicht wir selbst sind (ein „Nicht-Ich“), von dem wir uns in der Bezugnahme auf uns selbst abgrenzen.
Diese Tatsache bezeichnet Lewis insofern als ambivalent, als das Unterschiedensein unserer selbst von dem, was nicht wir selbst sind (sei dies die Natur, ein anderer Mensch oder Gott), die Gefahr der Einsamkeit oder Verlassenheit mit sich bringt: Wir können die Differenz zwischen uns und dem anderen, von der das Wissen um unser Selbstsein abhängt, nicht in vollem Umfang erfahren, ohne danach zu verlangen, sie zu überwinden. Lewis erklärt: „Sobald wir uns unserer selbst voll bewußt sind, entdecken wir die Einsamkeit. Wir brauchen andere physisch, emotional, intellektuell; wir brauchen sie, um irgend etwas zu erkennen, sogar uns selbst.“[2]
Nach der Ansicht von Lewis stellen sich jedoch nahezu alle Versuche neuzeitlicher Philosophie, die Differenz zwischen dem Ich und dem Nicht-Ich (von der das Bewußtsein unserer selbst abhängt) zu überwinden, bei näherem Hinsehen als defizitär heraus. Entweder sie erklären unsere Überzeugung, mit unserem Ich von allem übrigen verschieden zu sein, zur bloßen Illusion: Sie leugnen das Selbstsein der Dinge, bzw. sie betrachten es als eine Art „optische Täuschung“, die aus der subjektiven Beschaffenheit unseres Bewußtseins resultiert. Oder aber sie bestehen auf dem Selbstsein der menschlichen Person, erkaufen deren „Rettung“ aber um den Preis eines bloßen Nebeneinanders der Dinge: Sie erklären das Gefühl, in Beziehung zu dem zu stehen, was nicht wir selbst sind, zu einer bloßen Täuschung.[3]
Die beiden Monismen, die Lewis in der ersten Hälfte seines Lebens vertreten hatte, gingen den ersten Weg. Im Naturalismus waren die wahren Ursachen unserer scheinbar freien und spontanen Entscheidungen bloße Naturprozesse. Im Idealismus war die wahre Quelle unserer scheinbar freien und spontanen Entscheidungen ein kosmischer Logos. In beiden Fällen ist dort, wo wir selbst zu handeln scheinen, in Wahrheit etwas oder jemand anderes „am Werk“. Lewis hatte sich aber auch mit dem theistischen Idealismus George Berkeleys und mit der Monadologie G. W. Leibniz’ beschäftigt. In diesen philosophischen Lehren ist das In-Beziehung-Sein der menschlichen Person mit dem von ihr Verschiedenen nicht mehr über ein gemeinsames In-der-Welt-Sein (d. h. über eine materielle Außenwelt) vermittelt, sondern nur noch (quasi virtuell) über eine von Gott gesteuerte Korrelation subjektiver menschlicher Sinneswahrnehmungen.
Lewis, der Leibniz’ Monadologie bereits 1924 zur Vorbereitung seiner ersten Philosophie-Tutorien durchgearbeitet hatte, weist die Idee einer solchen radikalen Trennung des erfahrenden Bewußtseins von allem, was nicht es selbst ist, entschieden zurück: Die Welt besteht nicht aus bloßen Monaden, weshalb wir das, was uns als Interaktion zwischen Personen erscheint, auch nicht als eine optische Täuschung abtun müssen. Es ist gerade die materielle Welt als ein Medium des Austauschs zwischen verschiedenen Akteuren, die die verschiedenen menschlichen Seelen miteinander in Kontakt bringt: „Materie, welche die Seelen voneinander trennt, bringt sie auch zusammen. Sie ermöglicht es uns, ein ‚Außen‘ wie auch ein ‚Innen‘ zu haben, sodaß das, was für dich Willensakte und Gedanken sind, für mich Geräusche und Blicke sind. Du bist nicht nur fähig zu sein, sondern auch zu erscheinen, und dadurch habe ich das Vergnügen, deine Bekanntschaft zu machen.“[4]
Die Existenz der einzelnen menschlichen Seele, das Vorhandensein von mehr als einer menschlichen Seele und die Existenz einer von unseren subjektiven Sinneswahrnehmungen unabhängig existierenden materiellen Außenwelt bedingen sich somit für Lewis gegenseitig: Es ist nicht vorstellbar, wie eine einzelne menschliche Seele ohne die beiden anderen Voraussetzungen (weitere Seelen und eine unabhängige Außenwelt) existieren könnte.[5] In seinen Jahren als Idealist hatte Lewis diese Analyse des Erkenntnisaktes nur auf die Frage der Bedingungen menschlicher Selbstwahrnehmung angewandt: Das Bewußtsein der einzelnen menschlichen Person von sich selbst hängt von ihrer Einbettung in eine Welt ab, die auch andere ihrer selbst bewußte Wesen beinhaltet.
Erst später, als Christ, bemerkte Lewis, daß ein vergleichbares Problem auch im Hinblick auf Gottes Bewußtsein seiner selbst besteht: Wäre Gott nur eine einzige Person, wie hätte er dann vor Erschaffung der Welt von sich selbst wissen können? Lewis ist sich darüber im klaren, daß sich solche Analysen nur analog auf eine transzendente göttliche Realität übertragen lassen, meint aber dennoch, hier eine echte Schwierigkeit zu erkennen: „Das Bewußtsein meiner selbst tritt gegenüber einer Umwelt, insbesondere einer sozialen Umwelt – einer Umgebung anderer Selbste – hervor. Dies würde eine Schwierigkeit bezüglich des Selbstbewußtseins Gottes aufwerfen, wenn wir bloße Theisten wären. Als Christen lernen wir jedoch aus der Lehre von der Heiligen Dreifaltigkeit, daß etwas der ‚Gemeinschaft‘ Analoges im Göttlichen von Ewigkeit her existiert – daß Gott Liebe ist, nicht nur in dem Sinn, daß er die platonische Form der Liebe ist, sondern weil in ihm die konkreten Wechselseitigkeiten der Liebe vor Anbeginn aller Welten[6] existieren und von dort aus auf die Geschöpfe übergehen.“[7]
Die Existenz eines „Anderen“ (d. h. eines „Du“) in Gott selbst ist somit für Lewis eine notwendige Voraussetzung für ein göttliches Selbstbewußtsein und daher auch für unseren Glauben an ein göttliches „Ich“. Wäre Gott eine undifferenzierte numerische Einheit, so hätte er sich vor Erschaffung der Welt auf nichts beziehen können, und schon gar nicht auf etwas, dem der Rang einer Person zukommt und das selbst eine Beziehung zu ihm haben könnte. Deshalb – weil Liebe eine Relation zwischen Personen ist – hätte Gott auch nicht Liebe sein können: „Nur ein Du kann geliebt werden, und ein Du existiert nur für ein Ich.“[8] Lewis stimmt daher G. K. Chestertons Analyse zu, daß die Trinität „einfach die logische Seite der Liebe“[9] ist. In Lewis’ eigenen, an Augustinus angelehnten Worten: „Die Worte ‚Gott ist Liebe‘ haben keine wirkliche Bedeutung, solange Gott nicht mindestens zwei Personen umfaßt. Liebe ist etwas, das eine Person für eine andere Person empfindet. Wäre Gott eine einzige Person, so wäre er vor der Erschaffung der Welt nicht Liebe gewesen.“[10]
Lewis kontrastiert diese christliche Konzeption Gottes als trinitarischer Liebe mit der platonischen Konzeption, die Liebe als Streben des Geschaffenen als Teilhabe am Göttlichen versteht, es aber für ausgeschlossen hält, daß Gott seinerseits seine Geschöpfe liebt. Er setzt dem hierbei zugrundegelegten numerischen oder arithmetischen Verständnis von Einheit die relationale Ontologie des Christentums entgegen.[11] In deren Zentrum steht die in der Beziehung der drei göttlichen Personen zueinander gegründete Liebe Gottes zu seinen Geschöpfen. Sie begreift das Unterschiedensein von zwei oder mehr Dingen (bzw. Personen) nicht als Hindernis, sondern als eine Voraussetzung für die Möglichkeit ihrer Vereinigung. Die angestrebte Einheit ist daher auch keine bloß numerische: Sie ist eine Einheit im Willen zwischen ihrer selbst bewußten Personen, die nur dann möglich ist, wenn beide Partner einen eigenen Willen haben, mit dem sie sich dem anderen in Freiheit zuwenden können.
C. S. Lewis hat seine Gedanken zu einer im trinitarischen Sein Gottes wurzelnden Ontologie nirgends am Stück dargelegt. Seine Schriften (besonders jene, auf die hier Bezug genommen wurde) enthalten aber viele Hinweise darauf, wie er sich eine solche relationale Ontologie vorstellt und in Abgrenzung zu anderen metaphysischen Entwürfen begründet. Wer mehr über seine Gedanken zu diesem Thema erfahren will, sei auf mein Buch Apostel der Skeptiker. C. S. Lewis als christlicher Denker der Moderne (Verlag Text & Dialog, Dresden 2015) verwiesen.[12] Es wäre aber auch eine lohnende Aufgabe, dieser Thematik einmal eine eigene Abhandlung zu widmen.
[1] Hans Urs von Balthasar verweist hier auf Lewis’ Aussage in Letters to Malcolm, Gott sei als der Grund unseres Seins immer sowohl in uns als auch uns ein Gegenüber und stellt die Verbindung zu Nikolaus von Kues her. Nach von Balthasars Ansicht ist davon auszugehen, „daß Gott als die schlechthinnige Einheit keinem Endlichen gegenüber als das ‚Andere‘ (gar als das ‚Ganz-Andere‘) bezeichnet werden darf, sondern daß man Nikolaus von Kues zustimmen muß, wenn er Gott das Nichtandere, Non-aliud nennt“ (Balthasar, Theodramatik II, 1. Die Personen des Spiels. Der Mensch in Gott, Einsiedeln 1976, 174, vgl. C. S. Lewis, Letters to Malcolm: Chiefly on Prayer, London 1964, 93f.). Lewis äußert sich gleichfalls skeptisch gegenüber Rudolf Ottos Bezeichnung Gottes als des „Ganz-Anderen“ (vgl. ebd. 23).
[2] C. S. Lewis, The Four Loves (Fount Paperback), London 1998, S. 2. Die Übersetzungen der Zitate im Text stammen vom Autor.
[3] Vgl. Owen Barfield, Owen Barfield on C. S. Lewis, hrsg. von G. B. Tennyson, Middletown, Connecticut 1989, S. 54.
[4] C. S. Lewis, The Problem of Pain (Fount Paperback), London 1977, S. 25.
[5] Vgl. Lewis’ „Summa“ in The „Great War“ of Owen Barfield and C. S. Lewis. Philosophical Writings 1927–1930, hrsg. von Norbert Feinendegen und Arend Smilde, Oxford 2015, S. 65f., C. S. Lewis, The Problem of Pain, S. 23–25 und ders., Mere Christianity, London und Glasgow 1955, S. 155.
[6] Im Original schreibt Lewis hier „before all worlds“. Das dürfte eine Anspielung auf seinen Glauben sein, daß Gott neben der unseren noch andere Welten geschaffen haben könnte, von denen wir nichts wissen.
[7] C. S. Lewis, The Problem of Pain, S. 23f.
[8] C. S. Lewis, „A Reply to Professor Haldane“, in: ders., On Stories and Other Essays on Literature, hrsg. von Walter Hooper (Harvest Book), San Diego, New York und London 1982 69–79, S. 78.
[9] Gilbert Keith Chesterton, The Everlasting Man, San Francisco 1993, S. 228.
[10] C. S. Lewis, Mere Christianity, S. 147.
[11] Vgl. C. S. Lewis, „Membership“, in: ders., The Weight of Glory and Other Addresses. Überarbeitete und erweiterte Ausgabe, San Francisco 2001, 158–176, S. 163f.
[12] Siehe dort vor allem Kap. 3.2.2 („Einheit und Unterschiedenheit von Schöpfer und Geschöpf“), Kap. 3.2.3 („Einheit als Beziehungseinheit zwischen Subjekten“) und Kap. 5.3.2 („Die Inkarnation als ein Geschehen von Tod und Auferstehung“).
Abbildung: Dreifaltigkeitsfresko in der St.-Jakobus-Kirche Urschalling (Wikimedia Commons)