Unter der "Inneren Emigration" versteht man in der deutschen Literaturgeschichte jenes schriftstellerische Schaffen, das sich der nationalsozialistischen Diktatur und deren Drang nach totalitärer Kontrolle der kollektiven Meinung entzog oder verwehrte, ohne doch die letzte politische Konsequenz einer Flucht aus dem Heimatland zu ziehen. Auch unter den Bedingungen des Terrorstaates und des Vernichtungskrieges schien ein kulturelles Leben möglich, das Spielraum für eine Literatur bot, die bedeutende ästhetische ebenso wie ethische, gesellschaftliche und religiöse Qualitäten entfaltete.
Der Begriff der "Inneren Emigration" war freilich von Anfang an nicht unumstritten, und je weiter man sich von den Jahren des "Dritten Reichs" entfernte, desto schärfer und kategorischer schien die Ablehnung auszufallen, implizierte doch die Verwendung des Begriffes die Anerkennung der Tatsache, daß nicht nur die Exilanten unter den deutschsprachigen Schriftstellern, sondern auch die in Deutschland verbliebenen Autoren eine dissidente Kraft gegenüber dem ideologischen Zwang und dem gleichschalterischen Regime zu entwickeln vermochten. Ja, der Mut zur Dissidenz, zum Widerspruch und zum - jedenfalls geistigen - Widerstand schien bei den "Inneren Emigranten" ohne Zweifel mit einem größeren persönlichen Risiko verbunden als bei den aus dem Ausland agierenden Gegnern des NS-Regimes. Unbenommen stieg mit dem Ausharren freilich auch der Druck zum Kompromiß, zur partiellen Anpassung, zum Zugeständnis, so daß kaum eine Laufbahn der im Reich verbliebenen Schriftsteller gänzlich ungetrübt und geradlinig verlief.
Der Germanist und Historiker Günter Scholdt hat sich auf fast 500 Seiten dem Wagnis und der Mühe unterzogen, sowohl die Verdienste als auch die Brüche der Literatur der "Inneren Emigration" nachzuzeichnen. Er begnügt sich nicht mit Pauschalurteilen und jenen leichtfertigen Ressentiments, wie sie den Großteil der Debatte im heutigen Feuilleton, aber auch im wissenschaftlichen Umgang mit der Zeitgeschichte prägen. Und außerdem verfolgt er noch eine weitere wesentliche Perspektive: Indem er die spannende Vielfalt des um Unabhängigkeit ringenden literarischen Schaffens der Jahre 1933-1945 beleuchtet, stellen sich ihm immer wieder brennende Fragen nach den Parallelen zu der Situation des geistigen Lebens in unseren Tagen. Meinungsdruck und Konformismus, Repression und Kollektivzwang, Anpaßlertum und eine geradezu zur Routine gewordene Brandmarkung der Außenseiter - das alles sind Faktoren, die wir gerade im Schatten der einander rasch abwechselnden "Krisen" der letzten Jahre nur zu gut wieder kennen gelernt haben. Verhalten sich Autoren und Zensoren, Kritiker, Intellektuelle und Kulturpolitiker heute wirklich so anders als damals, oder gibt es vielmehr erschreckende Konstanten, die unser "Literatursystem" - bei allen offensichtlichen Unterschieden - weit stärker mit jenem der finsteren zwölf Jahre verbinden, als wir uns jemals eingestehen würden?
Hat also das genauere Hinsehen auf die Lage der historischen "Inneren Emigration" insofern gar nicht wenig von einem Blick in den Spiegel?
Die Lepanto-Neuerscheinung Schlaglichter auf die "Innere Emigration". Nichtnationalsozialistische Belletristik in Deutschland 1933-1945 von Günter Scholdt (Reihe: Erinnern und Überliefern) eröffnet eine faszinierende Fülle an Einsichten in jene dissidente literarische Kultur, ihre Nöte, Listen, lauten und leisen Triumphe. Nicht zuletzt aber ruft es eine staunenswerte Zahl an inzwischen fast vergessenen literarischen Leistungen wieder in Erinnerung. Es würdigt Werke von überzeitlichem Rang aus der Feder von Autoren und Autorinnen wie Werner Bergengruen (Der Großtyrann und das Gericht), Ernst Wiechert (Das einfache Leben), Stefan Andres (El Greco malt den Großinquisitor), Frank Thiess (Tsushima), Ernst Jünger (Auf den Marmorklippen), Horst Lange (Auf den Hügeln vor Moskau), Ricarda Huch (Deutsche Geschichte), Marianne Langewiesche (Königin der Meere) und vielen anderen. Aber auch die gehobene Unterhaltungsliteratur, das reiche Theaterleben, hervorragende Genres wie die Naturlyrik, die Reiseliteratur und die besonders vielfältige humoristische Produktion kommen ausführlich zur Geltung.
Das Buch ist zugleich eine provokante Neuvermessung und die beachtliche Summe aus einer langen, tiefen und kenntnisreichen Auseinandersetzung mit allen Facetten der Epoche.
Lesen Sie nach, lassen Sie sich zur Entdeckung eines vergessenen und verdrängten "Kontinents" der deutschen Literaturgeschichte anregen, und finden Sie Empfehlungen zu einer Vielzahl literarischer Ausflüge in die heute wie damals herausfordernd aktuelle "Innere Emigration"! Hier geht es zum Buch in unserem Webshop.
Abbildung: Illustration von Heinrich Ilgenfritz aus Stefan Andres: El Greco malt den Großinquisitor, Ausgabe 1958 (List-Bücher 120).