LOGBUCH XL (24. Februar 2023). Von Christoph Rohde
Zum Jahrestag von Rußlands Überfall auf die Ukraine läßt sich feststellen, daß sich der Krieg verstetigt hat. Rußland ist es nicht gelungen, die Ukraine im Handstreich zu erobern. Im Gegenteil: durch strategische Fehleinschätzungen, mangelnde Moral und unzureichende militärische und logistische Ausrüstung hat sich die selbsternannte Großmacht in eine prekäre Situation manövriert. Das Land befindet sich in einem opferreichen Krieg, der – mit Bezug auf die ursprünglichen Kriegsziele – nicht mehr zu gewinnen ist. Die Ukraine zeigt einen bewundernswerten Überlebenswillen. Das Land hat die Offensive der Russen nicht nur gestoppt, sondern auch substantielle Territorien zurückerobert. Die vom britischen Geheimdienst und der CIA unterstützten Maßnahmen gegen die russische Militärlogistik reichen mittlerweile bis weit in russisches Territorium hinein. Rußland baut auf die Brutalität der Wagner-Söldner, die die militärischen Defizite und die fehlende Motivation der regulären Armee ausgleichen sollen. Ein sofortiger Waffenstillstand, wie von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer in ihrem Manifest gefordert (Winkelmann 2023), ist allein deshalb unrealistisch, weil die Durchführung des Krieges gar nicht mehr allein in den Händen regulärer Truppen liegt. Die Söldnertruppen zurückzuziehen ist praktisch gar nicht denkbar. Das Ausliefern der Ukraine an Truppen, die zu allen Grausamkeiten bereit sind, ist keine Option; ebensowenig ist es realistisch, den Krieg bis zu einer vollständigen Rückeroberung des ukrainischen Territoriums fortzuführen. Die Wahrscheinlichkeit, daß ein gedemütigtes Rußland Atomwaffen einsetzt, weil es mit dem Rücken zur Wand steht, ist nicht von der Hand zu weisen. Kurz vor der Münchner Sicherheitskonferenz hat deren ehemaliger Chef Wolfgang Ischinger gemeinsam mit 34 früheren hochrangigen Politikern von den Atommächten Maßnahmen zur Verhinderung einer nuklearen Konfrontation gefordert (t-online, 17.02.2023). Putins Rede zur Lage der Nation vom 21. Februar 2023 hat verdeutlicht, daß der im neoimperialen Denken gefangene russische Präsident zu keinen Friedensverhandlungen bereit ist.
Für Christen stellt sich der Krieg als moralisches Dilemma dar. Eine Intensivierung des Krieges durch Waffenlieferungen des Westens fordert zumindest temporär immer höhere Opfer; ein Verweigern von Waffen führte zur Versklavung zumindest von Teilen der ukrainischen Bevölkerung. Es gilt, in einem Geist der Trauer, ohne jeden Triumphalismus und Furor, die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine aufrechtzuerhalten und parallel dazu jeden erdenklichen Weg zu einem Friedenszustand auszuloten.
Westliche Solidarität auf der Münchner Sicherheitskonferenz
US-Präsident Joe Biden kam am 20. Februar 2023 zu einem Überraschungsbesuch nach Kiew und damit in ein Gebiet, in dem keine amerikanische militärische Sicherheitsstruktur vorhanden ist. Beobachter vergleichen diesen Besuch mit dem von US-Präsident Franklin Delano Roosevelt in London während des deutschen Blitzkrieges oder mit Kennedys Rede in Berlin im Jahre 1961. Daß Biden zusammen mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj durch Kiew spazieren konnte, ist ein Bild von hoher Symbolkraft.
Bereits auf der Münchner Sicherheitskonferenz (MSC 2023, 17.–19. Februar) waren sich die Vertreter der NATO und der mit dieser assoziierten Staaten darin einig, daß die Ukraine stärker mit Waffen und Munition versorgt werden müsse, um sich selber verteidigen zu können. Die Lieferung von Kampf- und Schützenpanzern und Raketenabwehrsystemen ist vereinbart worden. Die MSC 2023 war ein Selbstversicherungs-Schaulaufen der westlichen Mächte in bezug auf deren Willen, alles Nötige zu tun, um eine Niederlage der Ukraine zu verhindern. Was das im Konkreten bedeutet, blieb offen. Ist eine vollständige Rückeroberung der Ukraine inklusive der Krim das Ziel oder eine Rückkehr zur militärischen Situation vor dem 24. Februar 2022? Russische Politiker waren auf die MSC nicht eingeladen, da sie im letzten Jahr, kurz vor dem Überfall auf die Ukraine, kurzfristig abgesagt hatten. Die Tür für die Diplomatie bleibt fest verschlossen. Und die Verfassungen der Konfliktparteien machen einen Friedensschluß durch einen geopolitischen Kompromiß so gut wie unmöglich (siehe Umland 2023).
Die Qualität der westlichen Waffenlieferungen
Zwischen dem verbalisierten Willen zu Panzerlieferungen westlicher Staaten und den Möglichkeiten, qualitativ hochwertige Systeme auch wirklich zügig zu liefern, klafft eine große Lücke. Die Lieferung von Panzern verzögert sich, da zahlreiche der zugesagten Einheiten gar nicht einsetzbereit sind. Militärstrategen vermuten, daß Rußland vor diesen Lieferungen Fakten durch eine Großoffensive im Frühling schaffen möchte. Es wird deshalb überlegt, deutsche Leopard-1-Panzer direkt auf Lizenzbasis in der Ukraine produzieren zu lassen. Die Stückzahl an zugesagten Panzern, die sich zwischen 300 und 400 bewegt, erlaubt kein realistisches Szenario für eine erfolgreiche ukrainische Gegenoffensive.
Amerikanische Himars-Raketenwerfer haben sich als besonders wirkungsvolles Waffensystem erwiesen. So wurde ein Ausbildungscamp der Russen geortet und beschossen, was zu einer hohen Opferzahl auf russischer Seite führte. Das heißt, daß russische Ziele leicht von der Gegenseite aufgeklärt werden können. Von zentraler Bedeutung ist die Lieferung von Luftabwehrsystemen. Deutschland bildet ukrainisches Personal am Patriot-Raketenabwehrsystem aus. Um eine Niederlage der Ukraine und die Einnahme Kiews zu verhindern, ist die Stärkung der Luftverteidigung vonnöten. Ob dazu die Lieferung von Kampfjets gehört, ist umstritten. Denn diese bergen die Gefahr einer Eskalation des Konflikts.
Rußlands brutale Kriegführung
Den Russen gelingt es seit Monaten nicht, die Stadt Bachmut einzunehmen. Diese Stadt ist ein Verkehrsknotenpunkt, aber die Russen erleiden in der verbarrikadierten Stadt hohe Verluste. Es ist die Wagner-Söldnertruppe, die dort ebenso wie die regulären russischen Truppen scheitert. Hinter Bachmut ist offenes Land, wo die Russen schnell fortschreiten könnten. Aber der Stellungskrieg ist mit hohen Opferzahlen verbunden. Die Russen haben auf massive Kriegsproduktion umgestellt, die vor allem die Produktion von Panzern und Drohnen umfaßt. Dabei werden sie durch weißrussische Produktion von Bauteilen und iranische Drohnenlieferungen unterstützt. Für die Russen spielen nach der Teilmobilmachung im Herbst 2022 Menschenleben nur eine geringe Rolle. Der Westen setzt überlegene Technologie dagegen. In einer Welt, die unter sozialen, ökologischen und ressourcenbezogenen Mißständen leidet, sollte man einsehen, daß alle Beteiligten durch diesen Krieg langfristig nur verlieren können.
Friedensplan Chinas ist unglaubwürdig
China ist kein neutraler Akteur in dem Konflikt und hat die grenzenlose Freundschaft zu Rußland deklariert (zur Nedden 2022). Doch de facto dominieren die Chinesen in diesem Bündnis. Rußland ist auf dem Weg, zum Vasallen Chinas zu werden. China hat indes kein wirkliches Interesse an diesem Krieg. Andererseits kann man Rußland im Kampf um eine multipolare Ordnung nicht fallenlassen; Rußland darf aus Sicht Pekings nicht völlig zerfallen. Auf der anderen Seite profitiert China massiv von der gewachsenen Abhängigkeit Rußlands und ersetzt die europäischen Länder als Abnehmer russischer Rohstoffe (Steiner 2022). Die Ankündigung des obersten chinesischen Außenpolitikers Wang Yi auf der MSC 2023, einen Friedensplan für den Konflikt vorzulegen, erscheint unglaubwürdig, da die Chinesen die Russen bisher mit zivilen Gütern wie Mikrochip-Lieferungen unterstützen. Dennoch liegt ein wichtiger Schlüssel für einen nachhaltigen Waffenstillstand im Reich der Mitte.
Zitierte Literatur
Steiner, Eduard (2023): Putins neue Abhängigkeit – diese Länder nutzen Rußlands Notlage aus. Welt vom 20. Januar. https://www.welt.de/wirtschaft/plus243369773/Putins-neue-Abhaengigkeit-Diese-Laender-nutzen-Rußlands-Notlage-aus.html
Umland, Andreas (2023): Ihre eigenen Verfassungen machen Frieden für Putin und Selenskyj fast unmöglich. Focus vom 16.02.2023. https://www.focus.de/politik/ausland/das-verfassungsrechtliche-hindernis-fuer-einen-russisch-ukrainischen-waffenstillstand_id_185712992.html
Winkelmann, Ulrike (2023): Die Melodie des 20. Jahrhunderts. taz vom 18.02.2023. https://taz.de/Manifest-von-Wagenknecht-und-Schwarzer/!5916576/
Zur Nedden, Christina (2022): „Grenzenlose Freundschaft“? Was Xi und Putin noch verbindet. Welt vom 30.12.2022. https://www.welt.de/politik/ausland/plus242919831/China-und-Rußland-Grenzenlose-Freundschaft-Was-Xi-und-Putin-noch-verbindet.html
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