LOGBUCH LXXIII (15. Mai 2025). Von Daniel Zöllner
Der dänische Schriftsteller Søren Kierkegaard, dessen 170. Todestag auf den 11. November dieses Jahres fällt, hat sein großes Werk im wesentlichen in den zwölf Jahren zwischen 1843 und seinem Tod im Jahre 1855 geschaffen. Kierkegaards Stil ist einzigartig in der Weltliteratur. Begriffliche Spekulation, die sich an der Dialektik des Deutschen Idealismus geschult hat, verbindet sich mit der existentiellen Tiefe des Christlich-Erbaulichen. Messerscharf und tieflotend sind Kierkegaards psychologische Analysen, und er wirft gekonnt sein begriffliches Netz auf konkrete Phänomene des menschlichen Seelenlebens. Dazwischen finden sich immer wieder kleine Geschichten, die das Gemeinte im Bild verdeutlichen.
In diesem einzigartigen Werk nimmt die Schrift Die Krankheit zum Tode (1849 veröffentlicht unter dem Pseudonym „Anti-Climacus“) eine zentrale Stellung ein. Romano Guardini schreibt in seinem Aufsatz „Der Ausgangspunkt der Denkbewegung Sören Kierkegaards“, Die Krankheit zum Tode scheine „der eigentliche Schlüssel zu Kierkegaards Schaffen“ zu sein. Die Begriffe der Verzweiflung und (etwas versteckt) der Schwermut spielen in Die Krankheit zum Tode – nicht anders als in Kierkegaards Biographie – die Hauptrolle. Man kann also mit einiger Berechtigung sagen, daß die Kierkegaard-Monographie von Moritz René Pretzsch sich dem innersten Kern des Kierkegaard’schen Denkens und Schaffens zuwendet.
Was ist Verzweiflung?
Die Quintessenz der Anthropologie Kierkegaards findet sich Pretzsch zufolge auf den ersten Seiten von Die Krankheit zum Tode. Dort wird der Mensch bestimmt als Synthese aus drei Gegensatzpaaren: Freiheit und Notwendigkeit, Unendlichkeit und Endlichkeit sowie Ewigkeit und Zeitlichkeit. Diese Synthesen sind dem Menschen nicht einfach vorgegeben, sondern er verhält sich zu ihnen und muß sie in gewissem Sinne erst erzeugen. Personsein, Selbstsein ist nach Kierkegaard eine riskante, ständig vom Scheitern bedrohte Leistung.
Die zentrale Behauptung Kierkegaards wird durch Pretzsch nun wie folgt zusammengefaßt: „Ein Missverhältnis – und damit Verzweiflung – entsteht, wenn es dem einzelnen Menschen nicht gelingt, die existentiellen Gegensätze seiner Synthese […] zu harmonisieren. Eine Disharmonie, eine einseitige Betonung von Endlichkeit, Notwendigkeit oder Zeitlichkeit mündet in Verzweiflung, der Krankheit zum Tode, ebenso wie eine einseitige Betonung von Unendlichkeit, Freiheit und Ewigkeit.“ (48) Man kann, salopp formuliert, immer auf zwei Seiten vom Pferd fallen.
Es würde den Rahmen dieser Rezension sprengen, wollte man nun die Verästelungen dieser Grundthese Kierkegaards im einzelnen nachzeichnen. Sie ist zunächst nur ein begriffliches Grundgerüst, das Kierkegaard nach und nach in psychologischen Einzelanalysen konkretisiert. Ein besonderes Augenmerk legt Pretzsch im letzten Teil seiner Arbeit auf das Übergewicht der Notwendigkeit bzw. Endlichkeit und auf den Mangel an Phantasie, welche in Kierkegaards Auffassung das pathologische Phänomen des Spießbürgers kennzeichnen.
Im allgemeinen läßt sich die zentrale Grundstimmung der Verzweiflung, deren Analyse Kierkegaards Schrift ja hauptsächlich gewidmet ist, mit Pretzsch als eine „Spaltung oder Duplizität der Persönlichkeit“ (58), als existentieller Zweifel im Sinne einer Konfrontation mit zwei einander widersprechenden Optionen verstehen. Pretzsch formuliert: „Alle Verzweiflung deutet darauf hin, dass der Leidende nicht mit sich selbst eins ist.“ (59)
In diesem Sinne ist die Verzweiflung – Pretzschs Kierkegaard-Auslegung zufolge – erstens als eine „gescheiterte Beziehung zur Welt“ (65–70) bzw. zu den Mitmenschen zu verstehen. Zweitens ist die Verzweiflung eine „gescheiterte Beziehung zu sich selbst“ (71–74) und dabei zunächst noch latent oder unbewußt. In einem dritten Schritt wird sie bewußt als Verzweiflung über etwas Irdisches (74–76), etwa über einen Verlust oder eine Kränkung. Dieser Affekt kann in einer Verzweiflung über das Irdische schlechthin gipfeln und führt so – viertens – hinüber in Verzweiflung als „gescheiterter Beziehung zu Gott“ (77–81). Man kann auf dieser letzten Stufe auch von einer „Verzweiflung über das Ewige“ sprechen. Hier knüpft Kierkegaard, wie Pretzsch zeigen kann, an die klassische Verurteilung des Hochmutes (superbia) an, denn „Verzweiflung über das Ewige“ ist nichts anderes als Trotz gegenüber Gott, besteht darin, sein eigener Herr und Schöpfer sein zu wollen.
Es gelingt Pretzsch darüber hinaus, zu zeigen, daß die drei Beziehungen, in denen das Selbst steht – Selbstverhältnis, Gottesverhältnis, Verhältnis zum anderen im Sinne des Mitmenschen – in ihrer Interdependenz zu denken sind; so resümiert Pretzsch: „Versagt man in seiner Beziehung zu Gott, so versagt man notwendigerweise auch in seiner Beziehung zur Welt (und ist dabei entweder von ihr losgelöst oder ganz auf sie beschränkt). Andererseits läuft das Scheitern in der Beziehung zur Welt darauf hinaus, dass man die Aufgabe, die Gott einem gestellt hat (nämlich ein besonderer Mensch zu werden, der auf besondere Weise liebt), verfälscht und damit in der Beziehung zu Gott versagt.“ (95)
Über die Schwermut
Wie steht es nun mit dem zweiten Begriff, auf den Pretzsch sein Augenmerk richtet, der Schwermut? Ein längerer Abschnitt (vgl. 119–127) zeigt – zunächst noch ohne Fokus auf Die Krankheit zum Tode – die Rolle der Schwermut in den privaten und in den veröffentlichten Schriften Kierkegaards auf. Aufgrund zweier längerer Zitate aus Die Krankheit zum Tode stellt Pretzsch dann im Sinne eines Interpretationsvorschlags die These auf, daß Verzweiflung und Schwermut in Kierkegaards Werk eng zusammengedacht werden müssen. Wie Pretzsch später konstatiert, geht „die Verzweiflung in Die Krankheit zum Tode wesentlich mit Schwermut und damit mit handlungslähmenden, trägen, überdrüssigen, gleichgültigen, willensschwachen, aber auch unglücklichen bis hin zu schmerzvollen und traurigen Erscheinungen und Zuständen einher.“ (195)
Ausführliche historische Exkurse stellen die Kierkegaard’schen Grundstimmungen der Verzweiflung und der Schwermut in lange Traditionslinien: Während die Behandlung der Verzweiflung an den Diskurs über die Hauptsünde des Hochmuts anknüpft, kann man Kierkegaards Nachdenken über die Schwermut in die Tradition des Nachdenkens über die „Trägheit“ (acedia, ebenfalls eine der klassischen Hauptsünden) bzw. über die Melancholie stellen. Als „Strukturmomente der Acedia“ werden von Pretzsch betrachtet: Überdruß, Gleichgültigkeit, Trauer und Zerstreuung. Diese Abschnitte besitzen den Charakter lexikonartiger Überblicksartikel, meist ohne einen direkten Bezug zu Kierkegaard herzustellen.
Diese Exkurse breiten eine Fülle historischen Materials aus. Ihre Funktion für die Monographie zeigt sich erst, als wieder der Bogen zu Kierkegaard geschlagen wird: Kierkegaards Denken gehöre „in die lange Tradition der Acedia“ (191). Der Däne befürworte die traditionelle Einreihung der Schwermut unter die Hauptsünden. „Insgesamt spricht vieles dafür, dass Kierkegaard Acedia, Melancholie, Spleen, Weltschmerz und Trauer im Rahmen eines einzigen Begriffs zusammenführt: der Schwermut.“ (193) Kierkegaard kritisiert die zeittypischen romantischen Modekrankheiten des „Weltschmerzes“ und des „Spleens“. Nach Guardini ist Kierkegaard selbst vom Wesen her Romantiker; diese Kritik wäre demzufolge wesentlich als Selbstkritik aufzufassen.
Pretzsch konstatiert eine gewisse Widersprüchlichkeit in Kierkegaards Betrachtung der Schwermut: Einerseits verstehe der dänische Schriftsteller die Schwermut als Schuld, andererseits aber auch als leibseelische Konstitution, der der einzelne machtlos ausgeliefert sei. Ein weiterer Deutungsansatz klingt bei Pretzsch an, wenn er zeigt, wie Kierkegaard – besonders in seinen Tagebüchern – die Schwermut als „Pfahl im Fleisch“ mit religiöser, heilsökonomischer Bedeutung für außergewöhnliche Menschen versteht.
Abschließende Betrachtungen
Das letzte Kapitel von Pretzschs Monographie behandelt das „Problem der Massenkultur“ (204) bei Kierkegaard: „Alles, was Masse und Menge ist, ist für Kierkegaard eo ipso verderblich. Da die Menge dazu neigt, den Einzelnen auszulöschen.“ (206) Kierkegaards Fokus auf den „Einzelnen“ ist nicht zuletzt auch als Protest gegen die Entgleisungen des Linkshegelianismus seiner Zeit (mit den namhaften Vertretern David Friedrich Strauß und Ludwig Feuerbach) zu verstehen. Der Linkshegelianismus „opfert“ nämlich den einzelnen der Gattung, verkennt so den Sinn des christlichen Glaubens und vergötzt das Abstraktum „Mensch“.
Mit den bereits erwähnten Gedanken über die Pathologie des „Spießbürgers“ schließt Pretzschs Monographie. Nicht nur an dieser Stelle macht Pretzsch die Aktualität von Kierkegaards Denken deutlich. Es zeigt sich außerdem die geistesgeschichtliche Bedeutung des Dänen, der ja als Vater der sogenannten Existenzphilosophie in den Lehrbüchern auftaucht. Pretzsch schreibt: „Kierkegaard sah es als seine erste Aufgabe an, die Realität der Verzweiflung an die Oberfläche des Bewusstseins zu bringen.“ (236) Die These, daß die Phänomene gerade nicht unmittelbar und an der Oberfläche offenbar seien, sondern erst erschlossen, entdeckt werden müssen, spielt eine zentrale Rolle in den existenzialen Analysen Heideggers und in dessen späterem „seinsgeschichtlichen“ Denken. Auch hat Kierkegaard, wie bei Pretzsch deutlich wird, in Die Krankheit zum Tode und in Der Begriff Angst die phänomenologische Analyse von Grundstimmungen vorgezeichnet, wie sie nach ihm u. a. Heidegger, Sartre und Bollnow unternommen haben. Der Gedanke, daß sich in gewissen affektiven Phänomenen die Grundstrukturen des Menschseins schlagartig erhellen, war nach Kierkegaard von großer Fruchtbarkeit.
Pretzschs Monographie kommt meiner Ansicht nach das Verdienst zu, Kierkegaards Denken als weiterhin aktuellen und wichtigen Beitrag zu einer Phänomenologie der Stimmungen für die Zukunft aufzubereiten – auch wenn der Fokus ausdrücklich nicht auf den Verbindungslinien zur Phänomenologie liegt. Vor allem zeigt Pretzsch, daß Kierkegaards Analysen der Verzweiflung und der Schwermut als Beiträge zu einer langen Tradition des Nachdenkens über menschliche Grundstimmungen, auch in ihrer religiösen Bedeutung, anzusehen sind.
Abbildung: Porträt des Søren Kierkegaard (1902) von Luplau Janssen (Wikimedia Commons)