Die Gesundheit und das Gestell

 LOGBUCH XXII (3. Januar 2022). Von Daniel Zöllner

 

 

Der Medizinhistoriker Heinrich Schipperges hat in seinem Vortrag Gesundheit als Theorie der Lebensordnung und Praxis der Lebensführung (1987) gezeigt, daß parallel zum Aufstieg der modernen Medizin der Begriff der Gesundheit immer mehr verarmte. Dies läßt sich an den Definitionen der Lexika ablesen. In Zedlers Universal-Lexicon von 1735 ist zu lesen: „Die vornehmsten Zeichen der Gesundheit sind ein hurtig Ingenium, glücklich Gedächtnis, reine unverdorbene Rede, scharf Gesicht und übrige wohlgeübte Sinne, ruhiger Schlaf, ordentlicher Appetit, eine gute und rechte Dauung.“ Rund 250 Jahre später, in Meyers Universal-Lexikon von 1982, wird Gesundheit lapidar definiert als „das Fehlen von der Norm abweichender ärztlicher und laboratoriums-medizinischer Befunde“. Diese Definition markiert ein Extrem der Verwissenschaftlichung, Objektivierung und Quantifizierung der Gesundheit. Dennoch wird man kaum bestreiten können, daß damit der Begriff der Gesundheit im Rahmen der modernen technischen Zivilisation sehr gut getroffen ist.

 

Hans-Georg Gadamer hat in seinen Überlegungen zur Verborgenheit der Gesundheit (Frankfurt a. M. 1993) darauf hingewiesen, daß die Gesundheit sich der Normierung entzieht, sich vor ihr sozusagen verbirgt, weil sie eine innere Angemessenheit aufweist, der mit von außen herangetragenen Normen nicht beizukommen ist. Der Rhythmus der Gesundheit gleicht nicht dem mechanischen Ticken einer Uhr, er kommt vielmehr durch das organische Pulsieren des Herzschlags, des Atems, des Essens und Verdauens, Schlafens und Wachens zum Ausdruck. Gadamer: „Es liegt eben im Wesen der Gesundheit, daß sie sich in ihren eigenen Maßen selbst erhält. Die Gesundheit läßt sich Standardwerte, die man aufgrund von Durchschnittserfahrungen an den Einzelfall heranträgt, als etwas Ungemäßes nicht aufzwingen.“ (138) Im Gegensatz zur Krankheit, die sich als „Krankheitsfall“, als Widerstand und Gegen-stand manifestiert, ist die Gesundheit (mit Heraklits Wendung gesprochen) eine „verborgene Harmonie“.

 

In der modernen Medizin wird versucht, die Gesundheit der Verborgenheit zu entreißen, sie zu normieren und zu objektivieren. Letztlich geht es dabei, wie überall in der modernen Technik, um das Verfügbarmachen des Unverfügbaren, um die Sicherung und Beherrschung des Unsicheren. Gadamers Lehrmeister Martin Heidegger hat diesen Wesenszug der modernen Technik, ja das Wesen der modernen Technik überhaupt, als ein „Stellen“ bezeichnet. Natur und Welt, Ding und Mensch (und auch die menschliche Gesundheit) werden durch die moderne Technik auf etwas hin festgelegt, ja fest-gestellt. Dieses Feststellen von etwas auf etwas ist nach Günter Seubolds Darstellung von Heideggers Analyse der neuzeitlichen Technik (Freiburg i. Br. u. München 1986) „nun aber kein interesselos-unbestimmter Vorgang, der dem Sein der Dinge gegenüber neutral verliefe, sondern ein Festlegen der Dinge in eine bestimmte Richtung, nämlich auf Funktionalität, Berechen- und Beherrschbarkeit für den sich durchsetzenden und alles in seine Befehlsgewalt zwingenden, vernutzenden und Ersatz fordernden Willen“ (109). All diese Ausprägungen des „Stellens“ werden von Heidegger mit seiner berühmten Wortbildung „Ge-stell“ benannt, die wie in einem Brennglas das Wesen der modernen Technik zum Ausdruck bringt.

 

Nach Seubold lassen sich an Heideggers Analyse des Gestells acht verschiedene eng miteinander verwobene Momente unterscheiden, die hier den Blick auf den Umgang der technischen Zivilisation mit der verborgenen Harmonie der Gesundheit leiten sollen. Das erste Moment des Gestells ist die Materialisierung. Seubold: „Entborgen werden die Dinge als bloß formbares, der technischen Willkür ausgesetztes Material.“ (54f.) Das Erschreckende am Gestell ist nun, daß diese Weise des Entbergens auch den Menschen zunehmend zum bloßen Material herabwürdigt. Auch die menschliche Gesundheit – von Karl Barth definiert als „Kraft zum Menschsein“ (KD III/4, S. 406) – ist nur noch Mittel zum Zweck, denn gesund ist der Mensch produktiver, seine Arbeitsleistung höher, während die Krankheit den reibungslosen Ablauf der Arbeit, den Kreislauf der Produktion und Konsumtion stört sowie Behandlungskosten verursacht, also seinerseits Material verschleißt und verbraucht, horribile dictu: auch das „Menschenmaterial“ der Ärzte und Pfleger. Das zweite Moment des Gestells ist nach Seubold die Uniformierung. Es wurde oben bereits als „Normierung“ angesprochen. Man könnte auch von Einebnung oder Nivellierung sprechen: Das Hervorstechende, von der durchschnittlichen Norm Abweichende wird gleichförmig gemacht. Es gilt nur noch der als gesund, dessen Laborwerte „in Ordnung“, also den Normen gemäß sind. Gesund ist im Grunde nur noch, wer noch nicht gründlich genug untersucht wurde. Damit wird der innere Rhythmus, die innere Angemessenheit der Gesundheit vergewaltigt.

 

Das dritte Moment des Gestells, die Funktionalisierung, hängt eng mit dem ersten Moment zusammen: Indem das Seiende zum Material wird, wird es auf seine Funktion reduziert. Heidegger hebt in seinen Analysen besonders die Funktionalisierung der Natur zum Energielieferanten hervor. Auch die Gesundheit wird durch das Gestell funktionalisiert: Als umfassende „Kraft zum Menschsein“ (Kraft zum Arbeiten ebenso wie zum Beten, Feiern, Lieben und Spielen) wird sie reduziert auf ein Mittel zum Zweck der Produktion und Konsumtion, während ihre Störung, die Krankheit, eben das reibungslose Funktionieren dieser Maschinerie behindert.

 

Das vierte Moment des Gestells bildet eine der Grundentscheidungen neuzeitlichen Denkens und Lebens: die Subjekt-Objekt-Polarisierung. Wie Heidegger besonders in seiner berühmten Descartes-Interpretation aus den Holzwegen (Die Zeit des Weltbildes) gezeigt hat, stellt sich der Mensch in der Neuzeit als Subjekt der Welt als Objekt gegenüber. Dies ist im Wortsinne ein Vor-stellen der Welt. Dem entfremdeten neuzeitlichen Subjekt wird auch der eigene Leib somit zur bloßen „Körpermaschine“, deren Mechanismen zu durchschauen und zu beherrschen sind. Gesundheit ist weniger das Wohlgefühl im Empfinden des eigenen Leibes als vielmehr das reibungslose Funktionieren eben jener „Körpermaschine“. Im Arzt-Patienten-Verhältnis der modernen Medizin wiederholt sich die Subjekt-Objekt-Polarisierung, denn hier gilt der neutral-sachliche und distanzierte Blick des Arztes (Subjekt) auf den Organismus des Patienten (Objekt) als Ideal.

 

Durch das fünfte Moment des Gestells, die Berechnung, soll das Unberechenbare berechenbar, also kontrollierbar gemacht werden. Ja, das Seiende wird durch das Gestell schon im voraus als Berechenbares konstituiert. Das geschieht am effektivsten durch seine Quantifizierung: Indem die Relationen des Seienden in Zahlenverhältnisse überführt werden, lassen sie sich berechnen, läßt sich mit ihnen rechnen und auf sie zählen. Routinemäßig werden Menschen gewogen, gemessen, geröntgt, ihre Körperflüssigkeiten analysiert, neuerdings auf ein Virus getestet. Die Gesundheit wird berechenbar, indem für all ihre Momente meßbare Werte definiert werden, die wiederum durch das zweite Moment des Gestells, die Uniformierung, allem und jedem aufgezwungen werden.

 

Dieses Aufzwingen hat Heidegger in einem sechsten Moment des Gestells als Durchsetzung und Herrschaft beschrieben. Dabei ist die Herrschaft des Gestells von jenen Formen der Beherrschung zu unterscheiden, die der Mensch seit den Anfängen seiner Geschichte in Form von Magie, Ritual, Gebet und technischen Verfahren anstrebt. Durch das Gestell wird das Seiende als gleichförmiges Material, als Berechen- und Beherrschbares entborgen. So treten dem Menschen auch sein Leib und seine Gesundheit als etwas zu Beherrschendes entgegen, während ihre von Gadamer beschriebene abgewandte, unverfügbare Seite sich dem Zugriff entzieht und vor ihm verbirgt.

 

Im siebten Moment, der Herstellung und Bearbeitung, kommt schon in der Bezeichnung das Stellen, das zum Wesen der modernen Technik gehört, zum Ausdruck. Die durch Subjekt-Objekt-Polarisierung vor-gestellte Welt wird nicht zufällig, sondern notwendig zur her-gestellten und bearbeiteten Welt. Wie man Konsumprodukte herstellt, so eben auch die Gesundheit. Dazu muß das Material des Körpers gegebenenfalls bearbeitet werden. Der Heidegger-Schüler Heinrich Rombach beschreibt treffend die Auswirkungen des modernen Gesundheitssystems, welches Gesundheit für möglichst alle Menschen herstellen und garantieren soll: „Die Medizin macht den Menschen im einzelnen zwar gesünder, im ganzen jedoch kränker, und zwar so, daß der Mensch früher ein gesundes Verhältnis zur Krankheit, heute aber ein krankes Verhältnis zur Gesundheit hat. Gesundheit als etwas, worauf ein Anspruch besteht und was gleichsam gemacht, hergestellt und wiederhergestellt werden kann, ist eine falsche Gesundheit und ein falsches Verhältnis zur Natur (also eine Krankheit).“ (Strukturanthropologie, Freiburg i. Br. 1987, S. 77) Noch weiter gehend, kann man die Frage stellen: Wenn sich Gesundheit herstellen läßt, warum sollte man dann nicht auch menschliche Körper in der Retorte herstellen oder durch Genmanipulation bearbeiten?

 

Das achte und letzte Moment des Gestells, die Vernutzung und Ersetzung des Seienden, konstituiert dieses als benutz- und ersetzbares Material. Wiederum empfiehlt sich ein Blick auf unsere Ausbeutung der Natur zum Zwecke der Rohstoff- und Energiegewinnung. Da die Weltkonstitution des Gestells die Totalität des Seienden in einer bestimmten Weise entbirgt, ist auch der Mensch, seine eigene Natur und Leiblichkeit davon betroffen. Im Zuge der Transplantationsmedizin drohen tote oder sogar lebende menschliche Körper zu Organlieferanten zum Zwecke der Behandlung von Erkrankten zu werden. Organe werden zum ersetz- und austauschbaren Rohstoff.

 

Die acht Momente im Wesen der modernen Technik bilden ein einheitliches Phänomen, sie lassen sich zwar unterscheiden, aber nicht voneinander trennen. Deshalb ist es auch sachlich gerechtfertigt, daß Heidegger alle acht Momente im Begriff „Gestell“ bündelt und zusammenfaßt. Insgesamt wird deutlich: Ohne die moderne technische Weltkonstitution, ohne die Weise der Entbergung des Seienden, die durch das Gestell unser Geschick geworden ist, wäre es niemals zu einer „Coronakrise“ gekommen. Nur weil der Mensch und seine Gesundheit durch das Gestell in der beschriebenen Weise entborgen werden, konnte es weltweit zu den bekannten Versuchen der Beherrschung eines Virus und des menschlichen Körpers kommen.

 

Heideggers Analyse hat dabei gegenüber anderen philosophischen Erklärungsansätzen, die man auf die „Coronakrise“ anwenden kann (etwa Friedrich Georg Jüngers Perfektion der Technik oder Michel Foucaults „Biomacht“), den Vorzug, daß er nicht bei lediglich ontischen Entscheidungen des Menschen, also im bloß zufälligen, so oder so möglichen Umgang des Menschen mit schon entborgenem, schon konstituiertem Seienden ansetzt, sondern vielmehr zur ontologischen Wurzel der gegenwärtigen Krise vordringt: Weil durch das Gestell in unserer Epoche das Seiende immer schon in der beschriebenen Weise entborgen ist, ist die „Coronakrise“ kein kontingentes Ereignis, das durch die richtigen menschlichen Entscheidungen zum Besseren gewendet werden kann. Vielmehr ist jede menschliche Entscheidung, die im Rahmen des Gestells, der technischen Weltkonstitution verbleibt, dazu verdammt, das Übel letztlich zu verschlimmern. Notwendig wäre nach Heidegger hingegen der Sprung in einen „anderen Anfang“. Eine „Überwindung“ der Moderne verbliebe innerhalb des Gestells und dessen Logik der Beherrschung und des Kampfes. Aus diesem Grund geht Heidegger in seinen späteren Schriften dazu über, von der „Verwindung“ der Moderne und einer „Gelassenheit“ gegenüber der modernen Technik zu sprechen. Nur die Einübung solcher Haltungen kann nach Heidegger einen „anderen Anfang“ vorbereiten.

 

 

Abbildung: © iStock by Getty Images / Nattapon Kongbunmee

 

 

 

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