Logbuch XVIII (25. März 2021). Von Daniel Zöllner
Gedicht und Gebet sind verschwistert. Es gibt Fälle, in denen beide Sprachgestalten gänzlich zur Deckung gelangen, Gebets-Gedichte oder Gedicht-Gebete. Schon die Psalmen des Alten Testaments sind ja künstlerisch durchformte Sprache, nicht nur kultische Zweckformen, sondern auch ästhetische Sprachgebilde. Die Ansprache an Gott, die Anrufung eines göttlichen Du, kann als das entscheidende Merkmal des Gebets betrachtet werden. Liebesgedichte, die sich an ein Du richten, lassen sich deshalb häufig auch als Gebete lesen. Christine Busta formulierte sogar: „Alle Liebesgedichte / sind letzten Endes / Gedichte für Gott“ (Wenn du das Wappen der Liebe malst, Salzburg 1981, S. 77.) Noch aus einem weiteren Grund können Gedicht und Gebet fast ununterscheidbar werden: Beide Sprachgestalten versuchen die Grenzen der Alltagssprache zu überschreiten, indem sie etwas ansprechen, das nicht vor Augen liegt, das nicht nur vorübergehend, sondern prinzipiell abwesend oder ungreifbar ist.
In seiner Büchner-Preis-Rede „Der Meridian“ von 1960 skizzierte Paul Celan eine dialogische Poetik, die das Gedicht dem Gebet annähert. Das Gedicht ist für Celan ein von seinem Autor entlassenes, eigenständiges Geschöpf, das auf ein Gegenüber zusteuert: „Das Gedicht will zu einem Anderen, es braucht dieses Andere, es braucht ein Gegenüber.“ Das Wort „Gott“ für das angesprochene Gegenübermeidet Celan, und auch das „bekannte Hilfswort“ des „ganz Anderen“ benutzt er nur mit großer Vorsicht. Das Gedicht ist für Celanalso nicht Gebet im traditionellen Sinn, nicht an ein schon sicher gegebenes Du gerichtet. Indem es ein Anderes anspricht, läßt das Gedicht gleichzeitig dieses Andere zur Sprache kommen: „Erst im Raum dieses Gesprächs konstituiert sich das Angesprochene, versammelt sich um das es ansprechende und nennende Ich. Aber in diese Gegenwart bringt das Angesprochene und durch Nennung gleichsam zum Du Gewordene auch sein Anderssein mit.“ Das Gedicht Celans, in dem diese Poetik besonders deutlich zum Ausdruck kommt, trägt den Titel „Psalm“. Es handelt sich um eine dialogische, gebrochen religiöse Lyrik unter den Bedingungen moderner „Gottesfinsternis“.
Auf dieser Fährte Celans bewegt sich heute in gänzlich eigenständiger Weise der Dichter Christian Lehnert (*1969), der zugleich evangelischer Theologe ist. Die Nähe zwischen Gedicht und Gebet stellt sich ihm wie folgt dar: „Wie das Gedicht ist das Gebet an der Grenze der vertrauten Sprache unterwegs und erkundet Räume, wo die Worte noch fehlen. [...] Das Gedicht findet zu sich selbst in einem suchenden Sprechen. [...] Ähnlich ist es mit dem Gebet, sobald es in einem sprachlichen Gewand auftritt. Ein betender Mensch spürt immer die Unzulänglichkeit seiner Ausdrucksformen. Jedes Wort zeigt so viel, wie es verbirgt.“ (Christian Lehnert: Gehe hinüber. Ein Nachwort, in: Gebete der Menschheit, Berlin 2019, S. 128 f.)
In Lehnerts jüngstem Gedichtband „Cherubinischer Staub“ (Berlin 2018) findet sich folgender Zweizeiler mit dem Titel „Gebet“ (S. 51):
„Nimm mir Gewißheit! Wahr – das ist die engste Zelle,
in der ich mich verlier, gedacht an meiner Stelle.“
Dieses Gebets-Gedicht überrascht, weil es Gott nicht um Sicherheit oder Gewißheit bittet, wie so viele andere Gebete, sondern im Gegenteil gerade darum, daß die Gewißheit dem Beter genommen werde. Lehnert scheint zu sagen, daß der Verlust der Gewißheit der Anfang des Betens ist. Wer genau Bescheid weiß, wer sich seiner selbst und seiner Sache sicher ist, wird sich nicht zu jenem „suchenden Sprechen“ entschließen, welches das Gebet ebenso kennzeichnet wie das Gedicht. „Ein betender Mensch spürt immer die Unzulänglichkeit seiner Ausdrucksformen“, ist sich also unsicher, ob das, was er sagt, dem Gemeinten und dem Angesprochenen adäquat ist. „Hörst du mich?“ – diese suchende, schwankende Frage ist der Anfang des Betens, während die Gewißheit, gehört zu werden und die Gewißheit, nicht gehört zu werden, das Beten sinnlos oder unmöglich machen. Was wahr ist, erscheint in Lehnerts Gedicht als „engste Zelle“, im Gegensatz zu jener Leere und Offenheit, in die das Gedicht und das Gebet hineingesprochen sind. Diese „engste Zelle“ nimmt den Platz des lebendigen Menschen ein, tritt an dessen Stelle, macht also jegliche Lebensäußerung und Bewegung zunichte. Nur derjenige, dem seine Gewißheit genommen wird, kann aus dieser Zelle, die er selbst geworden ist, hinaustreten in die Offenheit, die gleichzeitig die Tiefe des eigenen Inneren ist.
In Lehnerts Gedichtband „Windzüge“ (Berlin 2015) findet sich ein weiteres Gedicht mit dem Titel „Gebet“ (S. 84), das die Lesererwartungen aber noch eklatanter enttäuscht als das bereits zitierte. Es geht in diesem „Gebet“, wie eine kurze Prosa-Einleitung deutlich macht, um einen „Ort oder Zustand, welcher auf Dich zurückweist“. Beschrieben wird nichts weiter als ein „Pfahl, überwuchert mit Flechten“. Ohne den Titel und die Einleitung würde man dieses Gedicht nicht in Bezug zum Beten bringen, so aber gewinnt es eine überraschende Sinnebene:
„Das graut, harrt aus und wächst, bei Nässe
erweicht, sonst hölzern, reißt
es auf, im Mondlicht gleißt
es kalt, ein Sog in unbekannte Blässe,
ein Bersten durch die Nacht, und wich
hinaus, und überwuchert Rohr
und Stamm, und bricht wie Angst hervor,
und zeigt sich steinern, zeitlos, ganz bei sich.“
Es wird deutlich, daß hier kein göttliches Du angesprochen wird, daß man das Gedicht vielmehr als eine Darstellung des Gebetsvorgangs lesen kann, eine Darstellung, in der die Grenzen zwischen Innen und Außen unklar sind. Beten wird beschrieben als das Wachsen und Ausgreifen von Flechten: ein Wuchern, das Hindernisse zerbricht, ein Bersten und Hervorbrechen, ein Sog. Was wird durch das Wuchern zerbrochen und durchbrochen? Gewißheiten? Herzenshärte? Die Angst, sich zu öffnen? Die Widrigkeiten des Lebens? Die Kapsel der Subjektivität und der Immanenz? Diesem Ausgreifen, welches das Gedicht dominiert, wird aber ein Ausharren entgegengehalten, besonders im letzten Vers: „steinern, zeitlos, ganz bei sich.“ So bewegt sich das Gebet (und ebenso das Gedicht) in einer paradoxen Spannung: Es ist einerseits „ganz bei sich“, andererseits aber ein „Sog“ ins Abwesende, „in unbekannte Blässe“; es „harrt aus“ und „bricht wie Angst hervor“.
In einem titellosen Gedicht im selben Band („Windzüge“, S. 48) wird jenes Suchen und Ausgreifen als Sprachgebärde, als Ansprache an ein göttliches Du vollzogen:
„Du, wie Laub, das dunkler steht, wie Lorbeer,
wie Stamm und Brand und Asche,
wonach die Vögel haschen,
wie langes Ruhen. Wer
kann dich erinnern, wer vergessen?
Du zu sagen, ist es nicht vermessen?
Du, wie schwelendes Gesträuch am Weg,
wie Staubwind, du, wie Schweigen,
dem sich die schnellen Tage neigen,
du erster, nie benannt, wie Laub ...
Ich weiß nicht: Hab ich je an dich geglaubt?
Es war vergebens, denn du pochst in mir,
du schwelst, und was ich auch verlier,
du atmest, brennst an meinem Weg.“
Auf das erste Wort „Du“ folgen unmittelbar einige Vergleiche. Diese Häufung von Vergleichen, die nicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind, macht ersichtlich, daß weder der einzelne Vergleich noch die Summierung hinreichen, um das Du zu charakterisieren. Daraufhin werden zwei Fragen gestellt: „Wer / kann dich erinnern, wer vergessen? / Du zu sagen, ist es nicht vermessen?“ Wieder eine Fügung von Gegensätzen, ein Paradox: Der Beter hat Gott vergessen und doch nicht vergessen; Gott erscheint als unaustilgbarer Bestandteil des Gedächtnisses und gleichzeitig auch als etwas, das nicht in das Gedächtnis aufgenommen werden kann. Konsequenterweise wird daraufhin die Frage gestellt, ob es überhaupt angemessen ist, hier ein „Du“ anzusprechen, als habe man es mit einer gegenüberstehenden, greifbar anwesenden Gestalt zu tun.
Doch statt nun abzubrechen, greift der Beter weiter aus mit einem erneuten „Du“, mit zusätzlichen Vergleichen und deutlichem Anklang an die Begegnung Moses mit dem brennenden Dornbusch sowie an die Gottesbegegnung Elias am Berg Horeb: „Du, wie schwelendes Gesträuch am Weg, / wie Staubwind, du, wie Schweigen“. Hier wird die Ungreifbarkeit und Gestaltlosigkeit Gottes betont. Und wieder folgt eine Frage: „Ich weiß nicht: Hab ich je an dich geglaubt?“ Es ist hier, als sei die Bitte aus dem zuerst zitierten Gebet Lehnerts an dieser Stelle erhört worden: die Glaubensgewißheit ist dem Beter genommen. Die Ungreifbarkeit des Du macht es fraglich, an wen die Ansprache gerichtet ist, und was es war, an das der Gläubige glaubte. Zugleich weiß der Beter, daß alles Glauben „vergebens“ war, weil es festzumachen versuchte, was eher eine Bewegung ist, ein Pochen, Atmen, Brennen und Schwelen. „[D]u atmest, brennst an meinem Weg“ – der Beter ist in Bewegung, auf dem Weg, begleitet von der Gegenwart des angesprochenen Gottes. Die Aussicht, daß Gott mit dem Beter ist, „was ich auch verlier“, ist dabei ein Trost in aller Beunruhigung, in allem Suchen und Zweifeln.
Einen ähnlichen Zugang zu Gott als angesprochenem Du wählt ein Gedicht aus Lehnerts Gedichtband „Aufkommender Atem“ (Berlin 2011, S. 75), das nun abschließend betrachtet wird:
„Du bist der Wald, der Tiefdruckhimmel, tropfst
die Stunden, Blatt um Blatt, ins Land, du klopfst
ans Fenster: Wer ist dort? Nur du. Nur du.
Die Augen klappen mir wie Fallen zu.
Du bist das Echo, wie die Fledermäuse
die Nacht durchdringen, mich birgt dein Gehäuse.
Du bist, was ist und nicht ist, bist ein Gift
und Gegengift, ein Schuttloch oder Schrift.“
An die Stelle der Vergleiche im letzten Gedicht treten hier verschiedene Identifikationen des Du durch die Kopula „bist“. Zunächst wird Gott, sozusagen pantheistisch, mit dem sinnlich Erfahrbaren identifiziert: Skizziert wird das Bild eines Waldes mit wolkenverhangenem Himmel darüber, aus dem Regen fällt. All dies „bist du“ – all dies ist Gott. Wer ist es, der ans Fenster klopft, der Regen oder ein lebendiges Wesen? Jedenfalls findet der ans Fenster Klopfende auch hinter dem Fenster nur sich selber vor: Gott ist alles, alles ist Gott. Oder ist Gott nur ein „Echo“ der Stimme des Beters, eine Projektion, eine Spiegelung, eine Irritation seines Wahrnehmungsraumes? Die Formulierung „mich birgt dein Gehäuse“ läßt erkennen, daß Gott größer ist als der Beter, daß er den Wahrnehmungsraum des Menschen umfaßt.
Die letzten beiden Verse lassen pantheistische Assoziationen in den Hintergrund treten und greifen wieder auf paradoxe Wendungen zurück: Gott ist nicht nur, „was ist“, sondern auch, was „nicht ist“. Gott wird als „Gift und Gegengift“ bezeichnet: Er ist derjenige, der tötet und zugleich derjenige, der vor dem Tod rettet; er ist, wie es romantischer in einem Liebesgedicht Friedrich Rückerts heißt, „die Sehnsucht [...] und was sie stillt“. Ein geschlossener Stromkreislauf? Die letzten beiden Metaphern brechen auch diese Assoziationen nochmals auf: Plötzlich wird Gott zu „Schuttloch oder Schrift“ deklariert. Abgesehen davon, daß diese beiden Worte durch eine Alliteration verknüpft sind, haben sie auch einen ähnlichen Sinn: Schuttloch und Schrift sind Zeichen, die in ihrer Anwesenheit auf Abwesendes hinweisen, sie zeigen einen Mangel und ein Entbehren an, die über das bergende „Gehäuse“ aus dem sechsten Vers hinausweisen. Angesichts dieser Befunde ist wieder auf den Satz Lehnerts hinzuweisen, der zu Beginn dieser Überlegungen zitiert worden ist: „Jedes Wort zeigt so viel, wie es verbirgt.“ Und nur in diesem Wechselspiel aus Zeigen und Verbergen vermag das Gedicht als Gebet die verborgene Wirklichkeit Gottes anzudeuten und zu beschwören.
Fotoporträt: Christian Lehnert (Copyright: Jürgen Bauer); Quelle: https://news.univie.ac.at/presse/aktuelle-pressemeldungen/detailansicht/artikel/poetikdozentur-literatur-und-religion-mit-christian-lehnert/